Esels Ohr

Aus Wassermassen bricht Gebirge in die Höh‘: steile Felswände, durchzogen nur von einem Klettersteig. Auf diesem schmalen Steig steht ein Esel und schaut in den Abgrund vor ihm: Aus der Ferne kommen zwei Gestalten immer näher: ein Vater und sein Kind. Sie erklimmen den Berg, während die Mittagssonne brennt … und das Kind auf den Esel zeigt, der noch in den Abgrund starrt – und den schmalen Weg versperrt.
Der Vater geht langsamer; hält die rechte Hand vor die Brust seines Kindes, welches am sehnigen Arm vorbei das Tier bewundert: ein großer, grauer Kopf, mit langen Ohren, und einer schwarzen Nase – 
 „Ein Schmuggleresel“, sagt der Vater und bleibt stehen.
 „Können wir auf ihm reiten, Papa?“
 „Nein. Der hier will stehen. Komm‘.“
Der Vater beugt sich zu seinem Sohn und hebt ihn über das Tier –
 „Papa, schau! Er ist verletzt!“

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Der Letzte von Sagan

Jedem süßen Schluck folgt der bittere Nachgeschmack. Und dann die alles versalzende Meeresluft. Doch jeder auf dieser schwankenden Holzinsel erträgt es, genießt es, manches Mal, fast. Wenn sie sitzen, auf dem Deck, unter dem höhnenden, himmlischen Blau; und saufend davondrängen durch den Spott der glattspiegelnden Weite … – nach vier Monaten auf See ist eben alles Paradiesische schal geworden: Das Farbenspiel der Morgen- und Abendsonne; das Funkelall der Nacht; die Ruhe, die Ferne, die Ungebundenheit – selbst der wildeste Sturm zahm durch die Gewohnheit … da bleibt nur noch das abendliche Kartenspiel, das ihnen ein letztes bisschen Lebendigkeit erfindet: Wenn die gesetzten Taler knapp werden; wenn sie johlen und jaulen, so gemeinsam, über den Kuss oder Hass der Schicksalsgöttin; und dabei vergessen können, wie viel Rum bereits geflossen, wie eintönig und einsam sie sind: Dann erstehen sie auf, für wenige Augenblicke, am Ende jedes Tages.

Carsten war Schustersohn. Früh ohne Mutter, und später, als Lehrling, als junger Mann, der dem Ruf seiner Stammväter um jeden Preis gerecht werden wollte: Ohne Vater. Zu Tode gesoffen. Seine Mutter lebte noch, wahrscheinlich, irgendwo. Hatte sich nur davongestohlen – da konnte Carsten gerade sprechen. Mit zwölf also war er ganz elternlos; ein kaum gelernter Schuhmacher, und vor ihm die Bürde des generationenalten Betriebs – von Sagan. In der ganzen Lüneburger Gegend – ach: In allen Kurfürstentümern kannte man diesen Namen. Und er war der letzte. Also musste er.

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Nichts ist unmöglich

Aber Sie haben ja Nichts gesagt. Ob ich weiß, dass – natürlich weiß ich, dass Sie tot sind. Aber Nichts sagten Sie bereits, als Sie noch lebten, es steht ja hier in Ihrem Buch! Entschuldigen Sie mich, Ludwig – der Kellner kommt. Was für ein freundlichkeitskarges Gesicht. Falten über Falten, und keine Lachfalten – „Nichts zu essen, nein. Nur einen von diesen Verlängerten hätte ich gerne, bitte. Ohne Milch, ohne Zucker.“ Wie, warum ich dann nicht ‚schwarz‘ sage. Ist diese Umstandsmeierei der Wiener Charme, von dem man spricht? Ludwig, sagen Sie denn gar nichts dazu? Ach … Ihre Umstände … machen es Ihnen ja unmöglich! Aber eigentlich ist doch nichts unmöglich: Ich spreche ja doch mit Ihnen, zwar in meinem Kopf, aber – Sie antworten mir, nicht? Nein? Nichts? Genau! Bei Nichts war ich. Hören Sie, Ludwig … ich wollte Ihnen lediglich mitteilen, wie absurd ich es finde, dass etwas so Nichtssagendes wie Nichts überhaupt verwendet werden kann, in einem Satz, und dass ein solcher Satz mit Nichts dann sogar Bedeutung hat, verstehen Sie? Nichts bedeutet ja mir nichts, dir nichts – Verzeihung – Ihnen nichts: nichts. Nichts ist inhaltlich leer, ganz einfach. Und aber dennoch bedeutet Nichts irgendwie irgendetwas, was seinem Inhalt ja widerspricht, und ebendies müsste vollkommen unmöglich sein, nicht? Wie ich eigentlich vorhin meinte: Nichts müsste unmöglich sein … und nichts für ungut, aber …

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Für Constantin

„Nur derjenige, der von uns gegangen ist, ist derjenige, der zu uns gehört. Verstehst du, mein Lieber?“
„Aber, Opa! Das hat doch gar nichts damit zu tun.“
„Was soll womit was zu tun haben?“
„Mann! Hörst du mir nicht zu: Ich saß mit einem Freund und einem Bekannten beim Frühstück, in einem Hotel, das voll von Malereien war; auch neben meinem Freund hing ein Bild. Ein Mann war darauf zu sehen. Beim Rumreichen der Semmeln dann scherzte ich, dass dieser Mann im Portrait ja auch wahnsinnigen Hunger haben müsse – und daraufhin hat mein Freund dem Bild eine Semmel hingehalten“
„Und was ist passiert?!“
„Ja nichts ist passiert, Opa. Das ja war nur ein Bild.“
Ein Grinsen breitete sich über das faltige Gesicht aus. „Folge mir“, sagte er, stand auf, nahm seinen Stock und schlurfte durch die Stube zur Tür; ging durch den langen, schmalen Flur, an dem einige Gemälde hingen, und blieb beim Letzten stehen. Er beugte er sich vor, flüsterte etwas und sah mich an. „Jetzt musst du genau hinschauen.“
Doch auf der Leinwand veränderte sich nichts. Das dunkle Schlafzimmer mit dem Nachttisch in der Mitte und darauf die einsame Lichtquelle. Daneben, im Schein, das schlafende Kleinkind in der Wiege. Und auf dem Boden, kaum vom Licht berührt, die Mutter – erschöpft oder tot.
„Ich seh‘ immer noch die gleiche Leinwand, Opa.“
„Ach ja?

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Vollendung

und kein Tag ohne Rauschen, kein Tag ohne Ruh, kein Tag ohne die brechenden Wellen der Zeit,

die es treibend abtragen, das Fleisch, wie das Gestein, das sie zu Sand wandeln, alles – ziehen sie zu sich, mit jeder Woge unter schillernder Gischt zum Meeresabgrund

reißen sie noch jedes Leben, jedes

irgendwann Entstandenes, in und aus den himmlischen Gewässern, nur

um zu werden, und vergehen, und wieder zu entstehen, stets: ein erstes Regen, erstes Blicken – während andere ersticken, in den Fluten

jener Wassertropfenmasse, die sich schmiegt an unsre Erde – dort

wiegt sich in den Sandkornweiten kühl ein Film der Morgensee, der dunklen, der von Wolkenwucht umzäunten, während langsam hell das Blau den Himmel öffnet, da, wo Strahlen aufgefächert glühen:

Sie kommt,

die Gleißende, sie:

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Der Bruder des nachdenkenden Titanen

All das nähme seinen Anfang an einem Sommertag. Ein tragischer Zufall würde mich endlich zur Schuld geführt haben, nur wegen meiner Vernarrtheit in das Menschliche. Und wie meine todtraurigen Kinder dort säßen, in der Küche, und nur auf die fahle Tischdecke starren würden … er mit seinen dreizehn Jahren, sie mit ihren fast sechzehn … und nur mit jenem Zufall vor Augen. Ihrem Unfall. Der, der mir meine Frau, und ihnen ihre Mutter genommen haben würde. Wie lange sie dort säßen und schweigen würden. Die Uhr würde ticken. Laut, lang. Laut. Lang. Dann täte ich etwas, irgendetwas, ihren Tee kochen. So, wie ich es immer schon getan hätte: würde das Wasser aufsetzen, von der Fenchelstaude im Garten einen Stängel mit Samen pflücken, ihn dazugeben, und meinen Kindern zwei dampfende Tassen hinstellen; die blauen Gasflammen des Herds ließe ich brennen. Dass der Tod die geliebte Liebe nicht zerstören könne, würde ich sagen, leise und deutlich, und, dass sie trinken sollen. Doch sie tränken nicht. Die Tassen stünden still und würden bald verdampft sein, mit der Nacht, die sich an der tickenden Uhr vorbei zu uns geschlichen haben würde. Bevor ich dann den Entschluss fassen könnte, was genau sinnreich Hoffnungsvolles zu sagen wäre, erhöben sich meine Kinder und verließen den Raum. Und ich bliebe zurück. Und all die Dunkelheit würde Betäubung verlangen; ich fände sie in einer Flasche. Jeder Schluck Schuldschutz; was ohne meine menschliche Vernarrtheit überflüssig wäre. Jeder Schluck schüfe Klarheit, mehr und mehr, bis sich mir eine neue Lebensaufgabe offenbart hätte: zu trinken, eisern. Jeden Tag aufs Neue. Jeden Tag trinken, damit der Tag sich auflöste; so lange und so oft, bis es mich irgendwann aufgelöst haben würde. Diese Offenbarung dann triebe mich an, diese letzte jetzige Nacht noch zu nützen; und so führe ich zu ihr.

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