All das nähme seinen Anfang an einem Sommertag. Ein tragischer Zufall würde mich endlich zur Schuld geführt haben, nur wegen meiner Vernarrtheit in das Menschliche. Und wie meine todtraurigen Kinder dort säßen, in der Küche, und nur auf die fahle Tischdecke starren würden … er mit seinen dreizehn Jahren, sie mit ihren fast sechzehn … und nur mit jenem Zufall vor Augen. Ihrem Unfall. Der, der mir meine Frau, und ihnen ihre Mutter genommen haben würde. Wie lange sie dort säßen und schweigen würden. Die Uhr würde ticken. Laut, lang. Laut. Lang. Dann täte ich etwas, irgendetwas, ihren Tee kochen. So, wie ich es immer schon getan hätte: würde das Wasser aufsetzen, von der Fenchelstaude im Garten einen Stängel mit Samen pflücken, ihn dazugeben, und meinen Kindern zwei dampfende Tassen hinstellen; die blauen Gasflammen des Herds ließe ich brennen. Dass der Tod die geliebte Liebe nicht zerstören könne, würde ich sagen, leise und deutlich, und, dass sie trinken sollen. Doch sie tränken nicht. Die Tassen stünden still und würden bald verdampft sein, mit der Nacht, die sich an der tickenden Uhr vorbei zu uns geschlichen haben würde. Bevor ich dann den Entschluss fassen könnte, was genau sinnreich Hoffnungsvolles zu sagen wäre, erhöben sich meine Kinder und verließen den Raum. Und ich bliebe zurück. Und all die Dunkelheit würde Betäubung verlangen; ich fände sie in einer Flasche. Jeder Schluck Schuldschutz; was ohne meine menschliche Vernarrtheit überflüssig wäre. Jeder Schluck schüfe Klarheit, mehr und mehr, bis sich mir eine neue Lebensaufgabe offenbart hätte: zu trinken, eisern. Jeden Tag aufs Neue. Jeden Tag trinken, damit der Tag sich auflöste; so lange und so oft, bis es mich irgendwann aufgelöst haben würde. Diese Offenbarung dann triebe mich an, diese letzte jetzige Nacht noch zu nützen; und so führe ich zu ihr. Führe noch dieses einzige Mal zu ihr, weil nun mein ganzes, restliches Leben daran hinge, an dieser Nacht, an diesen ewig letzten Augenblicken mit ihr, meiner Verheimlichten, meiner Liebelei mit dieser Hübschen, Jungen, die mich mit ihrer Nähe noch ein Mal einbalsamieren würde. Wie immer würde sie sich gleich auf mich legen und mich besitzen mit ihrer feurigen Schönheit; läge und wöge in ihr, während ich aber an jene hässliche Tragik denken müsste; an das, was am Morgen dieses Sommertages noch ungeschehen und jetzt, in dieser Nacht, schon viel zu lange geschehen wäre – an sie dächte ich, und wie sie jetzt auf dem Elysion weilen würde, während wir, meine Kinder und ich, hier oben ohne sie wären. Die Schöne säße noch auf mir, würde fragen, was denn mit mir sei und da nähme mich meine neue Aufgabe heimlich ein, begleitet von einer schlagartigen Nüchternheit, die mein Bewusstsein in höchste Höhen höbe und mein schlechtes Gewissen zum Ausbrechen brächte; auch aus den Augen der an mich Geschmiegten bräche dieses Schlechte mit allen Übeln, aller Verlogenheit und Schwäche, allem bösen Ich hervor, sodass ich aufstünde, abrupt, endgültig, mit einem letzten Blick zu ihr, die kaum verstünde, von Verliebtheit geblendet, gebannt im Hauch der Hoffnung, wie sie wäre: aber meine Aufgabe hätte bereits begonnen. Ich führe nach Hause und tränke mich besinnungslos, um gerecht zu beginnen. Und so erst fände ich in dieser Nacht noch etwas wie Schlaf. Und am nächsten Tag, dem ersten meines neuen Lebens, wären es meine Kinder, die so ahnungslos mich dazu erwecken würden. Sogleich gestünde ich es ihnen, dass ich von nun an nicht mehr ihr Vater sein könne, dass ich von nun an zu trinken und zu schweigen habe. Und wie ich danach tränke und schwiege. Bis auch sie mich verlassen hätten, und darüber hinaus. Und niemals würde ich klagen. Ruhevoll gekettet an die Aufgabe bliebe ich, in diesem Gebirge aus Trunkenheit. Eisern würde ich die Jahrzehnte schlucken, bis meine Leber zerfressen und die Altersflecken auf meiner Hand beinahe gezählt wären. Dann erst könnte ich erkennen, wie bald schon das Leben mich verschluckt haben würde; von dieser Erkenntnis an aber, begänne jeder Tag mit einer dämonischen Hoffnung. Und diese stähle bald mir meine für mein Schweigen und Schlucken notwendige Disziplin. Bis ich an einem Sonntag von Hoffnung erfüllt erwachen würde, und im ganzen Haus nur noch leere Flaschen fände. Nüchternheit würde mir drohen, die ganze Nüchternheit vor jener letzten Nacht; und wie sie mich dazu triebe, jede einzelne Flasche zu zerbrechen und auszulecken; wie ich danach durch die Wohnung rasen würde, suchend, wütend, alles zerforstend und im Badezimmer dann stieße ich schließlich auf die Erlösung, das alte, verstaubte Rasierwasser, das sie einst so sehr liebte – ich würde es mir in den Rachen kippen, diesen brennenden Duft, und gleich darauf überkämen mich leibliche Höllenqualen, mit ihr, der Dämonin der Zeit, die meine Psyche so stacheln und engen würde, dass ich mein Innerstes erbräche, und schließlich mein Bewusstsein verlöre … und in einem weißen Zimmer würde ich aufwachen, gebettet. Neben mir stünde ein junger Mann, ein Fremder, mit vertrautem Gesicht, das mich etwas Unheimliches empfinden ließe. Dieser Fremde würde sich mir als mein Enkel vorstellen, als der jüngste Sohn meines Sohnes. Er würde mir erzählen, wie er mich gefunden hätte, wie zufällig; getrieben durch ein jahrelang unbeantwortetes Warum, und dass sein Vater, eben mein Sohn, mein einstiger, ihm vor einigen Tagen erlaubt habe, Antworten zu suchen, und mich zu finden und wie er ins Haus käme, falls ich mich endlich totgetrunken hätte. Und wie urteilsfrei er es erzählen würde. Wie urteilsfrei stünde er dort, dieser junge Mensch, mein Enkel, und wie sehr würde er mich dabei an meine Frau erinnern. Meine Frau, die ich ein ganzes halbes Leben lang vertrunken haben würde. Dann bräche mein Herz – und ich spräche, zum ersten Mal, wieder; doch nur mit Tränen. Mit uralten Tränen spräche ich zu ihm, wie zu meiner Toten, und der Junge nähme meine Hand und würde sie drücken. Das Verlebte würden aus meinen Augen weinen: meine Kinder! Adam, Eva, und auch deren Kinder, von denen ich nichts wüsste – da müsste ich fragen, würde fragen müssen, warum er denn hier sei? Warum? Und er würde sagen, dass er mich retten wolle. Weil mein Leben geliebte Liebe zerstört habe.