Im Caféhaus

Gedankenversunken schlürft er das Wasser aus einem grauen Glas. Ein dampfender Espresso steht neben ihm, auf dem kleinen graublauen Tisch, und seine Zigarette im Aschenbecher wippt hin und her. Er ist an die gläserne Außenwand des Cafés gelehnt und starrt auf sein schwarzes Handy. Trotz der Frühlingswärme trägt er einen Winterpullover.
Mit den Fingern der linken Hand klopft er auf die Holzbank und unter zusammengezogenen Augenbrauen schweift sein Blick von links nach rechts, dann zurück auf sein Handy. Plötzlich reißt es ihn aus seiner Gedankenwelt: ein Prolet steht neben ihm, auf dem Gehweg, und johlt ins Café. Unverständliches dringt aus dem kleinen Lokal. Er fühlt sich gezwungen diese Störung aufzulösen und versucht es mit einer Floskel. Der Prolet zeigt ein hölzernes Lächeln, das diesen Umstand endlich zerfließen lässt: wieder sinkt er in seine Gedankenwelt zurück. Er leert seinen Espresso. Er atmet tief ein und aus, und erhebt sich. Seinen Rucksack aufgeschnallt und mit dem leeren Geschirr in der Hand geht er in das Café, bedankt sich bei der Bedienerin und verabschiedet sich halblaut. Beim Hinausgehen wirft er einen flüchtigen Blick auf einen jungen Mann, und zieht den linken Mundwinkel kaum merklich in die Höhe.
Selbst nach all der Zeit war es ungewohnt für ihn, so unerkannt durch eine Stadt gehen zu können. Einst kannte ihn jeder, und nie hätte er für diese schwarze Brühe zahlen müssen; heute –
Aber so war es wohl mit den Menschen, und mit der Zeit: alles war vergänglich – kaum hatte sein Ruhm den Alltag in rosafarbenen Nebel eingehüllt, verblasste er auch schon mit jedem weiteren Tag.
Er spaziert neben dem Donaukanal – auf dem Weg zu seiner Psychotherapeutin. Jasmin. Vor fünf Jahren war sie in sein Leben getreten, weil ihn eine Existenzkrise an den Rand des Wahnsinns gebracht hatte. Ein klaffendes Loch hatte sich damals aufgetan; gleich einer schwarzen, spiegelnden Flüssigkeit, in der er jeden Tag zu ertrinken drohte. Er schaudert. Die Sonne steht hoch und der Himmel ist klar, aber ihm ist kalt. Seit damals war ihm kalt. Und die Winter waren die bitterste Herausforderung. Er fährt sich durch die Haare, nicht weil sie ihm ins Gesicht hängen, sondern weil er sich erinnern will. Die dünnen Überbleibsel auf seinem Kopf waren der Beweis dafür, dass er bereits seit 5 Jahren kämpfte. Ein Anker, ein Symbol des Überlebens – sein Alter. Jasmin hatte ihn auf die Idee mit dem Anker gebracht: ein Ding, eine Handlung – etwas zu einem Symbol werden zu lassen, es mit einem Gefühl oder einer Erinnerung zu verbinden, damit es einem Kraft geben kann. Zu Anfang hatte er sich dagegen gewehrt, für ihn klang das nach Schwachsinn. Bloße Einbildung, wie der Glaube. Aber sie wusste, dass sie zu ihm durchdringen musste.
„Der Selbstmord ist die einzige Niederlage im Leben. Wäre da nicht jedes Mittel recht?“, hatte sie gesagt. Bei dieser Frage tauchten unerwartet Zweifel in ihm auf. Als Kind hatte er gläubig zu sein, ohne zu wissen warum. Je älter er wurde, desto schneller sickerte der Glaube aus seinem Kopf. An seine Stelle traten die Erfolge, sichtbare Resultate. Glaube, Einbildung – es war einfach zu wässrig; er brauchte Handfestes. Aber vielleicht war eben das Schwachsinn? Denn jetzt saß er dort, vor dieser hochstudierten Therapeutin. Und in jener Sitzung verstand er.
Vor dem Zebrastreifen zu einer Brücke hält er inne, blickt nach links, dann nach rechts, und geht hinüber. Er schlendert bis zur Mitte der Brücke und lehnt sich an das Geländer. Er blickt in Richtung Nordwesten, der Donau entgegen. Dieser Fluss. Wie sein dünnes Haar, so war auch die Donau ein Anker, der ihm Kraft spendete. Täglich überquerte er die Donau. Täglich fuhr er durch sein Haar. Täglich zwei Erinnerungen daran, dass er seitdem nicht aufgegeben hatte – dabei hatte er allen Grund dazu gehabt: über Nacht fiel er aus dem Erfolg in dieses klaffende Loch. Statt des rosa Nebels eine Düsternis, die ihn von Tag zu Tag verschlingen wollte. Plötzlich alles, eines Tages nichts. Eines Tages tot in der Donau, plötzlich in einem fahlen Zimmer. Kahle Wände, chlorgetränkte Luft. „Sie haben versucht sich zu ertränken“, war der erste Satz, der in sein Bewusstsein gelangt war. Ungern erinnerte er sich daran. Es wurde sich um ihn gekümmert; er wurde wieder Mensch – Jasmin kam in sein Leben.
Sie, die ihm bedingungslos half. Sie, die ihn wieder mit dem Leben verband, zweckmäßig. Schon in der ersten Sitzung hatte sie es geschafft für ihn zu dem Fluss zu werden, in dem er sich ertränken konnte. In jeder weiteren, erneut. Jasmin war zu seinem mächtigsten Anker geworden.
Er holt tief Luft und sich aus den Gedanken. Mühselig löst er seinen Blick von der ruhig fließenden Donau und geht weiter in die Richtung ihrer Praxis. Lange schon hatten sie sich nicht mehr gesehen und er konnte es kaum noch erwarten sie wieder vor sich zu haben. Er überquert einen weiteren Zebrastreifen, beschleunigt seinen Schritt und endlich steht er vor ihrer Tür. Er drückt den kleinen weißen Knopf, der Türöffner summt und er tritt ein. Der lange Gang, die schweren, schwarzbraunen Möbel, die dunkelgrünen Wände, die abstrakten Gemälde. Er liebte diesen Ort. Wie gewohnt, die leicht geöffnete Tür am Ende des Gangs: Jasmins Zeichen, dass er erwartet wurde. Mit höherschlagendem Herz stößt er die Tür auf: er stockt. Erst setzt die Lunge, dann das Herz aus. Vor ihm, von der Decke hängend, Jasmin.
Ihm wird heiß, seine Augen brennen, sein Gesicht glüht. Er röchelt. Ihm wird schwindlig. Er langt nach der Tür – Halt. Den Blick nicht lösen können von ihrem tiefvioletten Gesicht, ihren hervorgequollenen Augen, ihren blauen Lippen. Mit ihrer weißen Bluse, dem schwarzen Rock – bewegungslos.
Die Zeit hängt mit ihr. Stille. Er zittert. Schwitzende Hände. Er greift nach dem Handy. Es fällt zu Boden. Er atmet ein. Er greift ins Leere. Er atmet aus. Seine Hände gehorchen nicht. Endlich – der Bildschirm leuchtet. 144. Diese grellen Zahlen brennen sich in die Netzhaut. Die Sicht verschwimmt. Er merkt nicht, was er tut – der Kopf ist blank. „Funktionieren!“, donnert es plötzlich. Er heult auf – er kann nicht. Er wimmert. Irgendjemand stottert. Eine Stimme wispert aus dem Lautsprecher. Er sieht nur Jasmin. Nur noch dieses Bild; es bricht auf ihn ein.
Silhouetten schwirren durch das Zimmer. Verschwommene Figuren in Rot. Dunkle Formen, ankerlos. Ein Dröhnen – unverständlich. Er ist taub, die Stille rauscht in seinen Ohren. Er zittert. Sein Hals verengt sich. Er schnappt nach Luft. Röcheln. Eine schwarze Masse drängt sich in seinen Mund, in seine Lungen. Bewusstlosigkeit.
„Schön, dass Sie wieder bei uns sind.“ Eine warme Stimme spricht zu ihm. Er öffnet die Augen und blickt in ein herzliches, altes Gesicht. Erst kann er die Worte nicht verstehen, die das Gesicht spricht; er kann bloß die Ruhe spüren, die es ausstrahlt. Endlich werden die Laute klarer und er kann das Gesagte verstehen: „… haben uns wirklich Sorgen bereitet“, sagt es. Irritiert schüttelt er den Kopf. „Sorgen?“, haucht er, „was ist geschehen?“ Fragend starrt er das Gesicht an, jetzt erkennt er, dass es einem in die Jahre gekommenen Arzt gehört. Der Arzt schweigt nur. Da brechen aus dem Nichts Erinnerungen in sein Bewusstsein: Jasmin – tot! „Nein!“, presst er zwischen Zähnen hervor. „Nein!“ brüllt er. „Nein! Dieses Miststück!“ Der Doktor schweigt. Die Ruhe wird zur Folter. „Sagen Sie was! Wer sind Sie überhaupt?“ Seine Frage schallt durch den Raum. Nach wie vor diese Ruhe, entwaffnende Ruhe, die durch den Raum schallt. Endlich räuspert sich der Doktor: „Ich bin wohl ihr Wärter.“ Dabei hebt dieser mit einem kaum merklichen Lächeln die faltige Hand und tätschelt ihn an seinem Knie. Ruckartig will er das Bein zurückziehen. „Fassen Sie mich nicht an!“, schreit er. Die Hand des Alten bleibt auf seinem Knie. Er will ihn treten, er will um sich schlagen, er will toben, ausrasten – er windet sich, sein ganzer Körper bebt, plötzlich, seine Lungen brennen, vom Geschrei, von seinem Fluchen, er flucht und flucht und flucht! Flucht – in dieses ewig ruhige Gesicht, das ihn ununterbrochen angesehen hat, ihn immer noch ansieht, mit vollster Aufmerksamkeit. Er kann seinen Blick nicht lösen. Sein Atem beruhigt sich unerwartet. Da bemerkt er, dass seine Wangen nass sind. Er will die warmen Tränen an seinen Ärmeln abwischen, aber er kann seine Arme kaum heben, alles schmerzt. Er starrt auf seine Arme, die mit blauen Flecken übersät sind. Wieder will das Bild von der herabhängenden Jasmin in seinen Kopf brechen. Wieder will er brüllen. „Wie konnte sie nur? Wie konnte sie das bloß tun? Wie konnte sie mir das antun?! Nach all den Jahren, nach all der Zeit! Es war ihr verdammter Job! Ich hab sie bezahlt – ich hab sie geliebt!“ Das letzte Wort hallt durch das Zimmer.
Schließlich sagt der Arzt leise: „Ich kannte Jasmin.“
Seine Augen füllen sich erneut mit Tränen. „Und?“, bellt er.
„Wer hätte sie nicht lieben können?“, antwortet der alte Mann behutsam.
„Nein, Sie verstehen nicht! Sie war alles für mich, mein ein und alles! Sie ist der einzige Grund – der Einzige! – warum ich noch hier bin!“ Er will sich durch die Haare fahren, doch sein Arm ist wie gelähmt. „Es war ihre Pflicht!“, flucht er. Er stöhnt, dann blickt er nach rechts aus dem Fenster. Eine dicke Wolkendecke verdeckt den Himmel. „Warum? Warum nur?“, klagt er vor sich hin.
„Die Ironie“, bemerkt der Arzt.
Er blickt zurück zum Doktor. „Wie konnte sie – jemand wie sie, ich meine – Suizid, das war ihr Gebiet! Das darf einfach nicht wahr sein!“ Ein weiteres Mal brechen Tränen aus seinen Augen. Nach wie vor ruht die Hand des Arztes auf seinem Bein. Ein heftiges Schluchzen folgt.
„Sie war eine großartige Frau“, sagt der Alte behutsam.
„Was?!“ Das Schluchzen verstummt.
„Aber auch sie hatte Probleme. Vielleicht wussten Sie davon?“
Er schnieft und schaut den Arzt nun zum ersten Mal aufmerksam an. “Woher kannten sie sie?“, kommt es aus ihm heraus.
Ein sanftes Lächeln erscheint im Gesicht des Doktors. Eine lange Pause entsteht bevor der Arzt antwortet. „Ich bin ein alter Professor, der Jasmin einst unterrichten durfte – und sie, wie Sie, lieben gelernt hat… Sie war wie eine Tochter für mich.“ Seine alten Augen werden glasig.
„Aber sie hat so vielen Menschen geholfen…“ Er schüttelt seinen Kopf. „Ich, und so viele noch am Leben, wegen ihr!“ Er schluchzt. Mit zitternder Stimme fragt er: „Ist sie wirklich -?“
„Ja“, wispert der Arzt.
Da sieht er das Bild vor sich: Jasmin, mit tiefviolettem Gesicht, herausgequollenen Augen und den blauen Lippen. Es schaudert ihn. „Hätte ich sie retten können?“
Der Doktor schüttelt den Kopf. „Sie war bereits tot, als Sie sie gefunden hatten.“ Er antwortet mit einem Seufzer. Der ewig graue Himmel glüht durch das Fenster und er lässt seinen Blick durch das Zimmer schweifen, links, dann nach rechts. Ein fahles Zimmer mit kahlen Wänden. Da erst kriecht ihm der Geruch in die Nase: Chlor. Für einen Augenblick flammt Panik in ihm auf. „War ich schon Mal hier?!“
Der alte Mann nickt. „Wir haben Sie vor drei Tagen aus der Donau geborgen.“
Das schwarze Loch öffnet sich klaffend und will ihn verschlingen. Es reißt ihn nach unten, eine unvorstellbare Kraft! Seine Augen rollen nach innen, die Sicht verschwindet, er ertrinkt in Schwärze – bis die warme Stimme des Arztes zu ihm dringt. Er versteht nicht, plötzlich sieht er wieder: das weiße Zimmer, das grelle Grau von draußen. Er will etwas sagen – der Chlorgeruch lässt ihn nur husten und würgen. Der Raum dehnt und krümmt sich, sein ganzes Sichtfeld verzerrt. Wie in Zeitlupe öffnet sich der Mund des Doktors, er glaubt das Wort „Atmen“ zu verstehen. Er holt Luft. „Und noch mal“, sagt der alte Mann bestimmt. Er atmet ein weiteres Mal ein. „Und tiefer.“ Warmherzig blickt der Arzt auf ihn. Erst als er sich beruhigt hat, sagt der Doktor: „Ja, Sie haben es ein weiteres Mal versucht.“ Er will nicht verstehen, schüttelt ungläubig den Kopf. Sorge liegt im Gesicht des Arztes: „Es war zu erwarten, nachdem Jasmin…“
„Nein“, stöhnt er. „Ich hatte mich entschieden, zu leben – damals. Mie habe ich eine Entscheidung geändert, noch nie hab ich mich verraten!“ Jasmins Bild taucht vor ihm auf. Ein strahlendes Lächeln blitzte ihm zu. Diese Frau, wie lange sie ihn schon bezaubert hatte. Zwei Mal in der Woche trafen sie sich, seit Jahren; sie opferte ihre Zeit, damit er im Leben bleiben konnte. Sie war – bewundernswert. Eine Schönheit, innerlich wie äußerlich; sie musste die Essenz der Liebe sein, das hatte er beschlossen. Mit jedem weiteren Treffen wollte er mehr von ihr erfahren – erst als Therapeutin, dann als seine wahre Liebe – er wusste, was zu tun war, er musste ihr wirklich näherkommen. Doch sie war intelligent; sie wusste wohl, was er versuchte; und sprach es schlichtweg an. Er bemühte sich, sie vom Gegenteil zu überzeugen. Aber es war hoffnungslos. Sie entfernte sich, sie wurde kalt. Wie Eis. Strahlendes Eis, das sein Herz umschließt, und er konnte nicht anders als sich zu ergeben. Sich ihr hinzugeben, trotzdem. Er sah bloß sie, schwebend, vor sich, in der Höhe, in warmes Licht getaucht – und er durfte hier sein! Er durfte bei ihr sein und mit ihr sein. Sie sagte irgendwas, etwas von wegen Patienten-Therapeuten-Beziehung. Sie würden sich nicht mehr sehen können. Er fiel aus allen Wolken. Er verneinte, ungläubig; sie konnte das Gesagte nicht ernst meinen! Zum ersten Mal glaubte er sie traurig zu sehen. Nein, nein, das passierte nicht. Schmerz in seiner Brust und in seiner Magengrube. Überzeugen! Er musste sie überzeugen, sie aber unterbrach ihn, legte ihre zarte Hand auf seine und meinte: „Es bedeutet mir zu viel.“ Dabei blickte sie zu Boden. Wie sich diese Worte an sein Herz schmiegten, wie dieses Hochgefühl durch seinen Körper sauste – sofort verstand er, sie brauchten Distanz, sie mussten sich erst voneinander entfernen, damit sie wirklich zueinander finden konnten! Er nickte, stand auf, umarmte sie liebevoll, verließ die Praxis, schon rauschten die Monate vorbei, er sah sie nicht mehr – plötzlich war er wieder in diesem Zimmer. Sie mit dem Strick um den Hals, er in einer fahlen Hölle.
Er ist allein im Zimmer, der Arzt verschwunden. Der Himmel strahlt immer noch durch das Fenster, mit dem grellen Grau, das von dunklen Schwaden durchzogen ist. Er schnaubt. Er will sich durch die Haare fahren, mühselig hebt er den Arm. Er schnaubt ein weiteres Mal, will sich den Frust von der Brust stoßen. Er sucht eine Uhr. Die Wände sind kahl und der Nachttisch neben ihm ist leer. Mit den Fingern der linken Hand beginnt er gegen den Bettrahmen zu klopfen. Er wartet. Der Himmel wird nicht dunkler. Stunden vergehen, oder Minuten, er kann es nicht bestimmen. Er starrt auf die weiße Tür des Raumes, erwartungsvoll. Endlich klickt das Schloss, die Tür schwingt auf. Der Doktor steht im Gang und nickt lächelnd einer Person zu bevor er das Zimmer betritt.
Auf seinen fragenden Blick antwortet der Doktor: „Vorhin sind sie wohl in ihren Gedanken versunken…“
„Vorhin?! Das muss ja eine halbe Ewigkeit gewesen sein!“
Die Augenbrauen des Arztes heben sich. „Eine halbe Ewigkeit?“
„Ja.“
Der alte Mann schaut zum Fenster. „Haben Sie schon Mal über die Ewigkeit nachgedacht?“
„Was?“ Er kneift seine Augen zusammen. „Das war doch nur so gesagt.“ Er blickt dem Alten flüchtig in die Augen. Dann rümpft er die Nase, als die Tränen erneut aus seinen Augen brechen wollen; als ob es dieser Greis wäre, der seinen ganzen Kummer freiließe.
„Nehmen Sie sich Zeit, Zeit zu trauern. Auch um sich“, sagt der Alte in vollkommener Ruhe, während er sich an das Ende des Bettes stellt. Er blickt mit ihm aus dem Fenster. Still rinnen seine Tränen die Wangen hinunter, ein leises Schluchzen steigert sich, wächst ins Unermessliche, der bittere Schmerz, der seinen ganzen Körper beben lässt – stundenlang weint er, stundenlang steht der Mann bloß an seinem Bett und schweigt, ist bei ihm, und der Tag will kein Ende nehmen: der Himmel graut immer noch, das Zimmer, fahl, der Chlorgeruch beißt, und er, er weint und schluchzt pausenlos bis die Erschöpfung seinen Schmerz endlich verebben lässt.
Der alte Mann geht um das Bett herum, lässt sich auf dem Hocker nieder und faltet die Hände.
„Ich kann es nicht fassen“, sagt er zu dem Alten, „dass sie fort ist. Einfach – fort.“
Der Greis murmelt etwas über den Tod, während er etwas in seinem Kittel sucht. Er zieht einen kleinen Schlüssel hervor und legt ihn auf den Nachttisch.
„Wofür ist der?“, fragt er flüsternd.
„Ich werde Sie jetzt alleine lassen“, sagt der Alte bloß und berührt ihn an seiner Schulter. Ein durchdringender Augenblick, dann erhebt sich der Mann und verlässt den Raum.
Er lehnt sich nach links, um das Licht abzuschalten. Dann dreht er sich auf seine rechte Seite, vergräbt die Hände unter das Kissen und starrt den grauen Himmel an, während er in den Schlaf sinkt.

Wien, Café ELAN, 2019

Comments are closed