Ob in den Zwanzigern oder am Ende seines Lebens. Eine Kurzgeschichte über einen eisernen Richter, dem das Schicksal alles genommen und alles gegeben hat.

An Tagen wie diesem gebe ich mich durch die Häufigkeit solcher erlebten Tage beinah gezwungen bereitwillig meiner ohnehin schon durch mein Alter bedingten Bedeutungslosigkeit hin. Meine Erfahrung lehrte mich, diese tagesbeherrschende Steifheit, die heute bereits mein ganzes Erleben gerichtet haben wird, zu lieben.
Zunächst beginnt so ein Tag mit einem besonders auszehrenden Krieg – nicht, dass es sonst anders wäre, nur fällt es mir an anderen Tagen leichter – ein Krieg, der von dem alten, dürren Gestell, das sich mein Körper schimpft, gegen mich ausgetragen wird: denn das Erheben, und das Sich-hinein-Zerren in den Tag, ist dann eine besonders von Leiden bestimmte Prüfung meines Willens.
Wie üblich braucht es drei Versuche, während deren mein Holzbett knarzt und mit der rasselnden Matratze einen dissonanten Ohreneiter erzeugt, bis ich die Schlacht ächzend gewinne und schwitzend, schweratmend aufgerichtet sitze. Nun folgt nun der Bekleidungskampf. Zuerst muss ich mich, unter krachenden Wirbelkörpern und auseinanderreißenden Fasern meiner täglich mehr schwindenden Rückenmuskulatur, vorbeugen und mit beiden Armen erst das eine, linke Bein greifen und auf mein anderes heben, um mir hierauf die erste Socke der am Vorabend präparierten Kleidungsstücke auf meinem Nachttisch über dieses mich kaum noch tragen könnende Beinende zu stülpen, wonach sich dasselbe Prozedere beim rechten Fuß wiederholt; danach ziehe ich mir, mithilfe meines Gehstocks, die viel zu weite, beige Anzugshose über die Beine und schließe den rissigen Ledergürtel, der den Hosenbund seit Jahren nicht mehr verlassen hat, um ein Loch zu eng; danach fasse ich das gräuliche Feinrippleibchen und grabe meinen Kopf, unterdessen meine Hände daran ziehen, hinein, helfe einem Arm mit dem andern durch die eine Öffnung, und umgekehrt, und mühe mich dann in das grünkarrierte, müllsackgroße Hemd, dessen Zuknöpfen so viel Freude bereitet, wie das Zählen der Nadeln all unserer Tannen in Mühlebündt; schließlich, nach mehreren Fehlversuchen, landen meine Füße in den Holzschlapfen und ich sammle mich für die nächste Auseinandersetzung mit meinem Körper: Aufstehen.

Tiefe Atemzüge, die ich in meiner Jugend höchstens als flach erachtet hätte, und dann, Kraft meines Gehstocks: ziehe ich mich hoch, auf die von der ersten Tagesanstrengung zitternden Beine, buckelig bleibend, und doch: stehend.
Anschließend schlurfe ich, und jeden Tritt unter Höchstbewusstsein, quer durch den buchhölzernen Raum, der sich zur Terrasse hin einfach öffnet und das zerklüftete Panorama vorarlbergischer Schönheit in dieses alte Zimmer lässt; hin, zu meinem geliebten Schaukelstuhl, neben dem der kleine, polierte, zu einem Kästchen mit drei Standbeinen getischlerter Baumstumpf steht, auf dem ein Glas Wasser, ein gefüllter Aschenbecher, eine Packung Eckstein und eine Schachtel Streichhölzer liegen. An Tagen wie diesem werde ich mich hier wiegend und rauchend erinnern, den ganzen Morgen lang, bis die viele geistige Aktivität auch sein körperliches Äquivalent gesucht hat und mich, nach einer Scheibe Brot um den späten Mittag herum, zu einem Spaziergang treibt.
Bevor es aber zum ersten zeitweiligen Frieden kommen kann, muss noch das Herablassen meines Leibes auf diesen instabilen, nur bis zum sicheren Sitzen noch feindlichsten Höllenstuhl glücken; und trotz jeder Vorsicht lässt sich der knochenschmerzende Aufprall von Menschenwrack auf durchgesessenen Hartkissen nicht vermeiden. Sitze ich endlich, zünde ich mir zunächst einen der grauenhaft und doch vorzüglich schmeckenden Brustwarzenersatze meiner nie bewusst gekannten Mutter an und zuzle daran, bis das Nikotin die jahrzehntealte, täglich erneute Sehnsucht beruhigt. Nachdem geraucht worden ist, folgt der erste Schluck raumkalten Wassers, unter Gedankensalven, die meine körperverursachte Gegenwehr, etwas Dichteres als Rauch mir einzuflößen, letztlich doch bezwingen. Nach zwei kleinen, qualvollen Schlucken bricht ein peitschendes Husten aus mir; und genau so, wie Sie es erwarten würden: mit schrillen Obertönen, erzeugt durch die verteerten, zusammenklebenden Bronchien, von denen sich, nach vielen ohrenschlagbrechenden Lungenverkrampfungen, ein Batzen Schleim löst, der viel zu zäh ist, als dass ich ihn auch nur hinauf zum hinteren Zungenbein würgen könnte, und der irgendwo im Rachen direkt vom Ausgang der Luftröhre zur Speiseröhre hängen bleibt und dort von mir hinuntergeschluckt wird. Genussvoll ist das nicht, selbstverständlich, aber es gehört zu meinem Altsein.
Während jener zeitweilige Friede sich in mir festsetzt, betrachte ich, ganz zeitlos, die Natur vor meinen Augen, und blicke dazwischen, nur ab und zu, zum Dachstuhl, an dem ein verlassenes Schwalbennest hängt. Der Herbst kam sehr früh dieses Jahr und hatte meine Schwälblein, die ich vor acht Jahren Paul und Alexander taufte, ohne Abschied, wie es doch sonst immer der Fall war – ein Jagdschuss.
Aus den fernen, über den Wäldern liegenden Dunstschleiern flattert etwas hinauf zum Himmel. Der Schuss hallt nach. Bei solchen Geräuschen zieht sich alles in mir zusammen und meine Hände krampfen sich an den Stuhllehnen fest, bis jedes Gelenk ganz weiß ist. Und erst, wenn die Stille wieder eingekehrt ist, löst sich diese Verkrampfung, die in den erinnerungslöchrigen Eindrücken der höchstwahrscheinlich traumatisierenden Weltkriegsjahre wurzelt.
Seien Sie sich bewusst, dass Sie mir nun zur Schwelle meiner Innenwelt gefolgt sind – und falls es zu unannehmlich für Sie wird, lade ich Sie herzlich dazu ein, jeder Zeit zu gehen; ich würde es Ihnen nicht übel nehmen. Nicht heute.
In der Nachkriegszeit hatte ganz Vorarlberg nichts als die Flüchtlingsversorgung und den Wiederaufbau, und dafür sei der Schweiz gedankt, gekannt; und doch wurde mir, als Teil einer so einfachen Familie, gesagt, ich sei zu klug um meine Hände mit Schwielen zu lebenszeichnen – zugegeben: derart hatte dies niemand formuliert. Es hieß nur, dass ich studieren solle, jemand mit meinem Kopf! Ganz Mühlebündt stünde hinter mir; diese fünfzig, sechzig, so würdigen Menschen. Und gleichgültig fügte ich mich. Wahrscheinlich, weil man mein Gesagtes bei jeder Dorfversammlung erhörte, und schätzte, ganz gleich, wie jung ich war, wurdes es dann die Rechtswissenschaft. So stolperte ich also in eine Universität, begleitet von der stets wachsenden Hochachtung, die mir die Dörfler bei jeder meiner Rückkehrten aus Innsbruck entgegenbrachten. Die Jahre zogen vorbei, ich heiratete Marlene und geriet auf den Richterstuhl – die Dinge fügten sich, wie man so schön sagt. Bis auf diesen einen Zwischenfall, der mehr als ein halbes Leben von mir verlangte, damit er sich fügen konnte.
Bei diesem Zwischenfall war Marlene schon fünf glückliche Jahre an meiner Seite – glücklich, wie ich ehemals dachte und es nicht besser wissen konnte – als ich mich nach der Abschlussfeier des von mir und einigen anderen, alten Kommilitonen erhaltenen Doctor Iuris beim Abschied alleine mit dem Zollhauser, Joachim Zollhauser, wiederfand. Aus dem Nichts heraus presste er seine so wunderschönen Lippen auf meine, worauf mich ein Rausch übermannte, der mich in die letzte Ecke meines tobenden Selbst drängte und mich jeglichem wirken-Können in der äußeren Wirklichkeit entfähigte. Wie Joachim mich Erstarrten dann ansah, lange, sich plötzlich entschuldigte und forteilte, während ich verharren musste in Furcht, die sich in eine innere Zerfahrenheit und dann in ein unergründbares Gefühl einer Schwere wandelte – Schwere, die mich brechen wollte; Schwere, die ich dort nicht erkennen konnte als Schuld – und die Ironie, wenn ich heute darüber nachdenke! Da hatte ich einen Berufsweg gewählt, der sich nur mit der Schuldfrage auseinandersetzte, und wie das Feuer des Gesetzes das Feuer des Gesetzesbruchs ausgleichen könnte, ohne jemals selbst eine eigene Schuld gespürt zu haben! Lange stand ich dort; versucht, dieses unergründliche Gefühl einzuordnen, irgendwo und irgendwie, während die Erinnerung an den soeben erlebten Kuss mich in ekstatische Wogen reißen wollte … diese höheren Mächte kämpften in mir, bis ich irgendwann, weit nach Mitternacht, diese Erfahrung in die Vergessenheit drängen musste, um daran nicht zugrunde zu gehen … dass diese Schwere aber nur der leiseste Hauch der leisesten Schuld war, das musste ich Jahre später so schmerzhaft in Erfahrung bringen.
Ein aufgeregtes Grundgemüt verträgt sich sonderlich gut mit Tabakwaren. Drum hatte ich auch, nachdem mich jene Männerlippen berührt hatten, mit dem Rauchen begonnen. Marlene hatte es versucht mir auszutreiben – mit ihrer sanften, liebevollen Art, in wöchentlichen Abständen, bittende Worten, die mich nie erreichten. Marlene. Sechsundzwanzig Jahre. Ewigkeit und Augenblick – ein Paradox. Genauso wie das, was sie und mich noch heute verbindet und uns trotzdem nicht weiter voneinander entfernen könnte – selbst, wenn sie nicht mehr leben sollte.
Den Tag, an dem diese Brückenkluft ihren Anfang fand – nicht, dass Joachim mir und unserer Ehe bereits einen Kluftsamen eingepflanzt hätte – werde ich nie vergessen. Es begann nach dem Ende eines wegrechtsbezogenen Nachbarschaftsstreits, ein sich über entsetzlich langweilige Monate ziehender, Grundbuchsauszüge ausgrabender, Pläne aufsuchender, Vermessungen wiederholender, mit jeder weiteren Gerichtssitzung stagnierender, durch Parteiensturheit scheinbar ewig aussichtloser, höllisch fader Prozess, welcher durch mein Urteil, das alle Parteien in gleichem Maße ernüchterte und das ich beinah schwitzend von der Anstrengung mein endloses gähnen-Wollen unterdrücken zu müssen, innerlich röchelnd von dem Nachglühen meiner mehrfach herbeigesehnten Erstickungs- und Ertränkungstode, die der bereits zerzweifelten Sinnhaftigkeit meines Berufswegs folgten, abgeschlossen wurde. In einem apathisch-psychotischen Zustand ging ich wie mit einem einzigen Schritt aus dem Tribunal direkt in das Esszimmer unseres Zuhauses – obwohl beide Orte, und damals lebten wir in Kufstein, wesentliche Gehminuten auseinanderliegen.
In voller Erwartung stand ich also dort, im dunklen Esszimmer, meiner Frau und meinen beiden Söhnen wahrlich bedürftig – nur war dort niemand, dachte ich. Eine unkonkrete Zeitdauer verging, bis ich in der am Tisch kauernden Silhouette Marlene erkannte. Als ich sie fragte, was denn los sei, da brachen, zwischen Tränenschreien hindurch, schrille Worte, die irgendwann von meiner Vernunft so angeordnet wurden, dass mich daraus eine Nachricht, die mich so bald die wahre Schuld einer wahren Ungerechtigkeit würde gespürt haben lassen, von meinen verschwundenen Söhnen erreichte.
Niemand wusste, wo sie waren. Die Polizei suchte bereits. Freunde, Lehrer, Schüler, ganz Kufstein, so berichtete Marlene mir, war schon informiert – aber sie waren nicht aufzufinden. Tausend Blitze und tausend Tode wäre ich eher gestorben, als diese Nachricht gehört haben zu müssen. Die panische Stunden und Wochen aber, die folgten, waren nicht zu vermeiden. Zeit, in der ich Marlene oft alleine ließ und suchte, mit anderen, Monate, alleine, Jahre. Ohne Aufklärung. Mich bewahrte bloß die Ungewissheit, in die sich etwas wie Hoffnung einnisten konnte. Sinnzerstörende Ungewissheit, doch Hoffnung. Die Zeit hing, die Zeitlosigkeit flog davon, mit uns, unsere Söhne blieben verschollen.
Wer wäre daran nicht zerbrochen? Marlene und ich, einzeln, und gemeinsam, zerbrachen, wurden zu Objekten; zwei vereinzelte Bruchstücke, die tief steckten, in dem so abrupt auseinandergerissenen Fleisch einer zerstörten Familie – so hatte die Ungerechtigkeit der Welt ihr Urteil über mich, über uns gesprochen. Mir und Marlene gezeigt, was wahre Schuld sein kann. Denn diese Schuld, dass unsere Söhne in die Zwischenwelt der Toten und Lebenden verschleppt worden waren … und es gab keine Spuren. Man wusste nur, dass etwas auf dem Nachhauseweg von der Schule passiert sein musste, meinen Kindern. Paul und Alexander, mit ihren 9 und 11 Jahren. Kinder, die jede Grausamkeit der Welt durch ihr bloßes Sein mit Liebe aufwogen – größtenteils; denn in kleinsten Teilen waren auch sie bereits vergiftet worden vom menschlichen Machten.
Nach Jahren dann war diese Ungerechtigkeit mit ihrer Schuld unaufhaltsam in die Tiefe unserer Wesen gewuchert und hatte zwischen Marlene und mir etwas aufgerissen, aus dem nur noch eine nicht zu denken gewagte dunkle Möglichkeit schattete. Dieser Schattenanblick, mit seinem schwarzen, scheußlichen Flüstern, das es wagte, das Unannehmbare auch nur im äußersten anzunehmen, gab uns den Todesstoß. Sie verließ Kufstein.
Jenes Höllenflüstern aber wurde stündlich stärker und steigerte sich über 8 Jahre hinweg zu grauenvollen Gewissensschreien – an dieser Stelle möchte ich Sie fragen, ab wann es erlaubt ist, auch nur im Geringsten zu denken, dass – wenn man um seine abgestorbene Hoffnung weiß, und nichts dagegen tun kann: ab wann ist das gewissensstumme Aufgeben erlaubt? Ab wann darf man die eigenen Kinder aufgegeben haben?
Spätestens dann, wenn zwei Fremde vor Ihrer Tür stehen und Ihnen eine scheinbare Tatsache mitten ins Herz verkünden, so hässlich ernst und mitleidig, weil sie, diese Fremden, Polizisten, wussten. Wussten, anhand einer DNS-Analyse. Ich nickte nur auf diese Nachricht, warf die Tür ins Schloss, wollte dem Impuls zu brüllen, mir diese offensichtliche Unwahrheit aus der Seele zu brüllen, folgen und doch kamen nur mich zur Vollständigkeit brechende Tränen.
Ein Richter war ich zu diesem Zeitpunkt schon lange nicht mehr. Der anfänglichen Beurlaubung folgte ein anhaltender Krankenstand und schlussendlich der Rücktritt, während der Sumpf, zu dem mein Leben geworden war, mit dem Schwellen nicht aufhörte und mich unter sich begrub, mit dieser Nachricht.
Eines dunklen, einsamen Abends dann, ungefähr ein Jahrzehnt später, noch in Kufstein, da saß ich in dem schönen Ledersessel, der schräg zum Fenster und gegenüber des Pianos stand, Marlenes wahrscheinlich noch immer dort stehendes Piano, und ich konnte mein Blick nicht von den Rasierklingen lassen, die ich seit Wochen auf dem Beistelltisch vorbereitet hatte. Durch den halbdurchlässigen Vorhang schien Mondlicht. Mein Weinen hatte all die Zeit nicht aufgehört. Dabei dürfen Sie sich nicht einen reißenden Tränenstrom vorstellen, wie damals, als mir jene Tatsache verkündet worden war, sondern bestand dieses Weinen aus Tränenperlen, die ununterbrochen über meine Wangen rannen.
So saß ich also, während Paul und Alexander wie immer durch meine Erinnerungskammern geisterten, und hoffend, an diesem Abend endlich bereit zu sein. So lange wanderte mein Blick von den Klingen zu den Bildern, die all die Jahre zwischen wenigen Büchern auf dem Kaminsims standen, bis ich plötzlich aufgescheucht wurde, durch eine Erkenntnis, dass ich, in diesem Lebenssumpf, mich in einer so ähnlichen Zwischenwelt befand wie einst meine Söhne, und es trieb mich durch das Zimmer, überwältigt von der Unentschlossenheit, die ihren Gipfel suchte, die mich schreien und fluchen ließ, die meine Gedanken entsinnte, verschlammte, bis ich hilflos und willkürlich ein – Buch vom Sims zog und es aufschlug.
Willst du mitgehn?, las ich dort im schwachen Mondlicht, oder vorangehn? oder für dich gehn?.. Man muß wissen, was man will und daß man will. – Vierte Gewissensfrage.
Mehrere Male las ich diese Worte, die so rasend schnell einen Sinn bildeten: Was man will und daß man will. Und schlagartig – waren die Tränenperlenrinnsale versiegelt. Wie aus einem unbarmherzigsten Traum des Lebens wachte ich da auf, in einen um viele Jahre gealterten Körper, mit einem mir bekannten, doch unendlich fremd vorkommenden Seelenleben – ich war wiedergeboren, in mir selbst; der Kraft dieses Satzes, dieser rätselhaften Kraft dieses, eines Sinns wegen – sie führte dazu, dass ich binnen weniger Tage Marlenes jahrealten, von ihr noch nicht unterzeichneten Scheidungsantrag endlich unterschrieben, die Gedenkstätte meiner Söhne erneuert, das Haus in Kufstein verkauft und die Übersiedlung zurück nach Mühlebündt vollzogen hatte. Auch hat seit jener vierten Gewissensfrage keine einzige Trauerträne meine Augen verlassen – etwas wie Appetit streift meinen Geist. Leider kenne ich mich in meinem Alter gut genug, und vor allem Tage wie diesem, um zu wissen, dass dieser Bereitwilligkeit meiner lebensmüden Hülle zu folgen ist, denn noch habe ich nicht ausgelebt. Also werde ich nun hinabgehen in die Küche.
Bevor ich mich aber ächzend vorbeuge, auf dem nicht mehr wippenden Schaukelstuhl, den Gehstock umklammere und mich auf meine Beine stelle, muss ich noch einmal die unter der hohen Sonne leuchtend herbstliche Berglandschaft, und das unbewohnte Schwalbennest betrachten. Daraufhin folgt ein tiefer Atemzug und der vom Erheben verursachte Schmerz – doch stehe ich letztlich, gekrümmt, mit dem Gehstock, und einem kläglichem Rest Körperspannung. Auf drei Beinen krieche ich zum Treppenlift an der Holzstiege, lasse mich grob auf den Sitz fallen und drücke den Knopf, der mich, so zäh wie jede meiner Bewegungen, nach unten, zum Hausflur bringt. Das Hochmühen, bei dem nun dritten Mal, fällt mir etwas leichter; auch, wenn es in gleicher Weise schmerzhaft ist. Ich treibe mich, den Appetitfunken erhaltend, in die altmodische Küche, die noch genauso wie vor achtzig Jahren aussieht, mir ihrer dunklen Vertäfelung. Aus dem Kühlschrank nehme ich etwas Butter und etwas Käse; aus dem Brotkasten eine Scheibe Roggenbrot, von der ich die schimmligen Stellen wegschneide. Dann esse ich im Stehen, widerwillig. Der Geschmack des Käsebrots dringt kaum durch den Tabakpelz auf meiner Zunge. Schon lange schmeckt das Essen so, beziehungsweise nicht. Ich kaue lang und viel, weil sich mein ganzes Wesen derart gegen das Schlucken wehrt, dass meine dritten Zähne den Bissen zu einer Art bröckeligen Suppe verändert haben müssen, damit die Nahrung dann von ganz alleine zu meinem Magen hinabsickern kann. Während dieses faden und mühseligen Aufwands, der aber zum Fortexistieren notwendig ist, blicke ich immer wieder zu der alten Kuckucksuhr, die nach dem letzten Bissen drei Uhr elf anzeigt – Zeit für den Spaziergang, der sich dazu eignet, Sie von meinem letzten großen Lebensereignis wissen zu lassen.
Ich schiebe mich aus der Küche zurück in den Flur, zur Garderobe, von der ich den seit einigen Jahren unangenehm schweren, olivgrünen Wollmantel nehme und ihn mir, wegen der begrenzten Freiheitsgrade meiner Arme, nur über die Schultern legen kann; hierauf setze ich mir den grauen Wollfilzhut auf den Kopf und gehe mit dem Gehstock vor die Tür.
Die Frischluft schlägt auf meine Lungen und kitzelt aus mir einen ersten kurzen, krachenden Hustenanfall, wie es noch einige Male geschehen wird, während ich an den herbstlich glühenden Gebirgshängen vorbeitrotte, auf dem Weg, der direkt vor meinem Haus, das das erste oder letzte Mühlebündts ist, in den Wald führt. Hier, jetzt in der Natur kann ich es Ihnen mitteilen.
Zurückgekehrt in das Dorf meiner Kindheit und Jugend war ich noch nicht lange. Abgesehen von dem zwiespältigen Gefühl, das sich zusammensetzte aus der mir nach wie vor entgegengebrachten Hochachtung als lebendiger, einstiger Erfolg Mühlebündts und dem Bekanntwerden als geschiedener Herr, dessen Kinder verschleppt und ermordet worden waren, lernte ich schnell Gesprächen, eher Floskelsümpfen, auszuweichen; ohnehin trieb mich die in Kufstein tangiert habende, unstillbare Kraft, die nur durch vieles und langes Wandern besänftigt werden konnte, in die Berge.
Und an einem Nachmittag, bei einem Aussichtspunkt, am Kreuzle, hatte ich Platz genommen, auf einer Holzbank, auf der ich den gewaltigen Ausblick der für mich schönsten Alpenregion in Ruhe lieben konnte. Da raschelte es plötzlich hinter mir und ein blonder Jemand tauchte auf, mit roten Wangen, massivem Kiefer und strahlend vor jugendlicher Freiheit.
Unser erster Blickkontakt hatte mein höflich vernünftiges Grüßenwollen in kindlich schüchterne Stummheit verwandelt, und mich seine Frage, ob neben mir noch Platz für ihn sei, mit einem ruckartigen Nicken beantworten lassen – weil mich ein Hauch jenes einstigen, mich übermannenden Rausches lähmte – vor Lust, wie es mir dort auf der Holzbank bewusst wurde. Lust an diesem jungen Mann, und seinem vor gesunder Kraft strotzenden Körper. Mein Herz schlug fest und tief in meinem Bauch, während wir in der Stille dort saßen und die Natur erlebten, so unvertraut, gemeinsam. Und dann, endlich, nach einer aufregend gehemmten Ewigkeit, wandte der schöne Fremde sich mir zu, stellte sich als Friedrich vor und streckte mir die Hand entgegen. Für einen Augenblick war ich überfordert, zu ihm spähend, noch stärker gelähmt durch seine jetzige Aufmerksamkeit, bis ich nach viel zu peinlicher Länge die Kontrolle über meine Motorik zurückgewann, ihm meine feuchte Hand reichte und mich vorstellte.
Lange berührten sich unsere Hände; so ungewöhnlich lang, und mit einem so vielsinnigen Blick, dass ich noch heute, jetzt, ein wenig darüber schmunzeln muss.
Und können Sie sich vorstellen, wie ich unterdessen litt, unter diesem für mich damals noch verstörenden Hochgefühl, das mit sich die Erinnerung an Joachims Kuss aus meiner Vergessenheit heraufbeschwörte; zu einer Art Gier wurde plötzlich alles, was ich in dort auch nur empfinden konnte – und schockiert über diese Selbsterkenntnis löste ich meine Hand von Friedrichs, und mein Blick flüchtete in die Weite. Friedrich wiederholte daraufhin meinen Namen und fragte, ob ich nicht der Richter sei, mit den … Söhnen? Ich nickte nur, worauf er sagte, dass es ihm sehr leid tue; dann wünschte er mir, viel zu schnell, einen schönen Tag, stand auf und ging. Berauscht streichelte ich über meine so zärtlich und lang gehaltene Hand, mir ganz bewusst darüber, was das für mich bedeutete. Und wie es dann am selben Abend noch an meiner Haustür geklopft hatte, und ich sofort hoffte, dass er es war, und wie er dann dort stand, mit heißer Aufregung im Gesicht, wie er hereintrat und die Tür mit einem dumpfen Schlag ins Schloss fallen ließ – da standen wir also, uns gegenüber. Ich, ein 62 jähriger, abscheulich Alter, wie ich ehemals dachte, einem jungen, kräftigen, freien Mann gegenüber. In seinen Augen lag das, was ich empfinden wollte, und gehemmt auch irgendwie empfand – schon zog seine Hand an meinem Nacken, riss mich aus meinen Hemmungen, seine Lippen pressten sich auf meine, stöhnend, in diesem so verboten richtigen Moment, der den Anfang einer wundervollen, herrlich freien Zeit in sich gebären sollte – in himmlischer Leidenschaft; und wie ich zu seiner und er zu meiner wurde, in den vielen heimlichen Nächten und Monaten, dem beinah ganzen heimlichen, wirklich glücklichen Jahr … bis er in die Schweiz verlangt wurde. Rekrutenschule. Ich musste ihn gehen lassen, und er mich, ohne meine Tränen, doch unter heftigsten seiner – und nein, nie wieder haben wir uns gesehen. Doch war das nie ein Grund zur Trauer; das Jahr mit Friedrich war das vierte große Geschenk, das mir in meinem Leben gemacht wurde, nach meiner Richtertätigkeit, Marlene und meinen Kindern.
Wie ich werden Sie wohl auch verstanden haben, bei jenem Schlüsselmoment in Kufstein, dass nichts noch so furchtbar Trauriges Grund genug wäre, auch nur eine einzige Träne zu verschwenden; dass man will, und was man will – muss man wissen. Im Allertiefsten ist keine Tatsache tränenwert, weil das Glück des Daseins – und genauso des Dagewesenseins – immer alles überwiegt! Kann irgendein Übel der Welt das am-Leben-Sein wahrlich berechtigt in Tränen zwängen? Weinen denn, ob aus Schmerz oder Glück, nicht nur unvernünftige, ichbesessene Stumpfmenschen, deren unvermögendes Körper-Seelen-Verständnis bloß ihre wahre, innere Unerwachsenheit verrät? Weil die eigene Stärke für die innere Empfindung zu schwach ist, und sich deswegen das Bedürfnis zu weinen, das Innere zu veräußern, aufzwängt? Nein, nie mehr musste oder wollte ich Tränen lassen, seit 21 Jahren nun. Meine beiden Söhne hatte mich ja doch für viele Leben lang weinen lassen und – hören Sie das auch? Dieses Zwitschern? Dort, schauen Sie! Da oben – ja, zwei Schwalben! Eine kleine, nein … und eine – ja, eindeutig größere, und – sie kommen zu mir! Na, seid ihr zwei denn gar nicht scheu? Was macht ihr jetzt noch hier, im Herbst? Ihr – aber … diese vor Unschuld glänzenden, schwarzen Augen … und der rote Streif an euren Köpfchen … die eisenfarbigen Schnäbel, mit dem goldenen Innenleben, die bläulich schimmernden Schwarzfedern, die sich so hart von eurem zarten, dich geschichteten Federweiß am Rumpf unterscheiden, der gespaltene Schwanz, und – und wie ihr tanzt und spielt, mir so nah – warum seid ihr denn hier, mein Paul, mein Alexander? Und warum rinnt da eine Träneperle über meine Wange?

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