Als er grundlos durch den Votivpark spazierte, fiel ihm die werbefreie Kirche auf. Kein meterhohes Plakat, das die Mauern mit einem überdimensionalen Huawei X6 G17 S++ Superflat Smartphone umspannte. Sondern einfach die reine, gotische Schönheit, die der Ringstraßendom eben war: ein vielgliedrig aufstrebendes, zartmächtiges Gebilde wie aus Elfenbein, mit düst’rem Dach über dem hint’ren, strebenreichen Teil. Ein Meisterbau, der den schmutzigen Stephansdom in den Schatten stellte. Und das einfach hier, im abenddämmernden Alsergrund – Los!, dachte er und schritt zum Vordereingang. Während seines Jahrzehnts in Wien hatte er die Votivkirche nie betreten. Renovierung, Pandemie, Werbeplakate, Terminstress und Ehrfurcht hatten ihn davon abgehalten. Außerdem spazierte er viel lieber durch den Sigmund-Freud-Park. Der war größer, freier und, trotz seiner Nähe zu dem Gotteshaus, weniger behaftet: Vater der Psychoanalyse versus Vater der Menschheit. Letzteres wog einfach zu schwer bei jedem Schritt. Und nach allem, was in den heiligen Wänden geschehen war … dazu noch diese auf Teufel komm raus erbärmlichen Bemühungen, das Christentum zu bewerben: mit Tiersegnungen, Gottgendern und narzisstischen Priester:innen, die dem vom so reichen Mitleid aufgeweichten Zeitgeist gefallen wollten, statt für ein starkes, stabiles, ein- und ausgrenzendes Zuhause zu stehen, das chaotischen Zeiten widerstand. Das aber konnten die Geistlichen gar nicht mehr, weil dieses Zuhause längst in den Tod gestürzt war. Es starb bei Nietzsche. Und seither versuchten sie, es gleichbleibend zu erhalten, in so seliger Sehnsucht – ungleich Goethes Schmetterling aber, der, zuletzt des Lichts begierig, verbrannte, um zu werden; der dieses Stirb-und-Werde hatte, um kein trüber Gast auf der dunklen Erde zu sein. Das Christentum ersehnte den Flammentod. Doch dank alter, weißer, bornierter und im Herz betrübter Männer, durfte es über 140 Jahre lang verrotten. Dafür konnten in diesem veralteten, religiösen Komposthaufen neue Glaubenssysteme aufkeimen, die als Sprösslinge aber nur eine rein politische Natur verinnerlicht hatten. Ihnen fehlte das freudige, traumhafte Phantasiereich, das mit mystisch magischem Bilder-, Melodien- und Geschichtenreichtum das mythologische Grundbedürfnis des Menschen befriedigte – die Votivkirche leuchtete rosarot auf. Und er hielt inne, kurz vor den Stufen. Dutzende Scheinwerfer hatten sich angeschaltet und beschienen das gelblich bleiche Elfenbeingebäude mit grellstem Pink. Wer zum Teufel hatte das denn genehmigt?! Welche:r Vollidiot:in hatte das gesehen und dann für gut oder schön befunden? – Ach, darum ging es ja gar nicht. Es ging um eine politische Stellungnahme, in der Öffentlichkeit, auf der Weltbühne –  an einer Gruft des Christengottes. Und dieses Grabmal würde er sich nun endlich von innen anschauen! Er stieg die Stufen zu den zwei dunklen Pforten, fasste den Griff der rechten und zog, und drückte: verschlossen. Und die linke: genauso; er schnaubte. Dann sah er sich das jetzt eben online an, und er zückte sein Smartphone, drehte sich um und ging.

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